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Reportage: Abendessen in völliger Dunkelheit

Reportage: Abendessen in völliger Dunkelheit

So sieht ein Mensch, der nur noch 5% seiner Sehkraft besitzt. (Foto: Giulia Rosso)

Würzburg – So eine Sauerei: Meine Finger landen auf dem Teller direkt in der Soße neben meinem Rostbraten.  Zum Glück hat das niemand gesehen, aber das kommt eben davon, wenn man sich mal ein Abendessen in absoluter Dunkelheit gönnt. Warum tue ich mir so etwas überhaupt an? Ich möchte einmal erfahren, wie Blinde und Sehbehinderte ihren Alltag bewältigen.

Und wo geht das besser als im Café Blind Date des Kilianeum-Haus der Jugend in Würzburg.

„Spätzle mit Zwiebelrostbraten sind tatsächlich eine größere Herausforderung als Pizza oder ein Sandwich“, gibt Andrea zu. Sie bedient mich und meine Freundin an diesem Abend im Dunkelcafé und ist Expertin in Sachen Sehbehinderung. Denn mit nur fünf Prozent der normalen Sehkraft kann Andrea ihre Umgebung im Alltag nur noch sehr verschwommen wahrnehmen.

Damit wir nicht ganz so verloren auf unserem Teller herumstochern, rät sie uns, mit der Messerspitze den Rostbraten abzutasten. So können wir herausfinden, wo wir schneiden müssen. Trotz der Tipps landet doch das ein oder andere große Stück Fleisch in meinem Mund. Und nicht allzu selten ist die Gabel schlichtweg leer. Inzwischen habe ich mich an die Dunkelheit gewöhnt. Am Anfang schwirrten meine Augen ständig umher und suchten nach irgendeinem Punkt zur Orientierung. Doch es war vergeblich und das tiefe Schwarz vor meinen Augen machte mir wirklich zu schaffen.

Seit 16 Jahren veranstalten der Würzburger Diözesanverband der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) und der Jugendtreff „Dom@in“ der Kirchlichen Jugendarbeit (kja) Würzburg die Projektwoche „Erfahrungen im Dunkeln“. Besucher können sich wie im normalen Café auch Essen und Trinken bestellen. Der Unterschied: Alles ist dunkel. Man lernt die Lebenswelt blinder Menschen näher kennen und kann sich mit Experten austauschen. Gefördert wird das Projekt vom Bezirksjugendring Unterfranken und dem Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund.

Positiven und mitleidsfreien Zugang zum Thema Sehbehinderung schaffen

„Unser Ziel ist es, einen positiven und mitleidsfreien Zugang zu dem Thema Sehbehinderung zu schaffen“, erklärt Jasmin Endres, Referentin im Fachbereich Inklusion bei der DPSG Würzburg. Ihre sehbehinderten Teammitglieder führen ein eigenes Leben, haben Familie und Kinder, arbeiten und gehen ihren Hobbys nach. Die Besucher möchte sie mit dem Café Blind Date dafür sensibilisieren, dass Sehbehinderte trotzdem Unterstützung brauchen.

Apropos Unterstützung: Immer öfter ist die Gabel leer, die in meinem Mund landet. Ich muss die komplette Mahlzeit inzwischen aufgegessen haben. Wirklich überprüfen kann ich es nur mit meinen Fingern – und lande wieder in der Soße. Tatsächlich: Ich kann kein Fleisch und keine Spätzle mehr ertasten.

Andrea war nicht von Geburt an blind. Eine Krankheit im Kleinkindalter legte sich auf ihren Sehnerv, wodurch sie nach und nach immer verschwommener sah. Trotz der Einschränkung wollte sie unbedingt auf eine reguläre Schule gehen und konnte diese auch erfolgreich mit Hilfe der Eltern abschließen. „Ich bin froh, dass ich auf die Regelschule gehen konnte, denn jetzt bin ich viel mobiler als andere, die zum Beispiel auf eine Blindenschule gegangen sind“, erklärt sie. Andrea ist seit acht Jahren an der Projektwoche im Café Blind Date beteiligt. „Mir ist es wichtig, dass auch Menschen ohne Sehbehinderung nachvollziehen können, wie es ist, wenn man blind ist.“

Während wir reden, merke ich allmählich, wie sich meine Anspannung löst. Irgendwie finde ich es beruhigend, um mich herum zu hören, dass da noch jemand ist. „Es ist schon passiert, dass wir mit den Tellern ineinandergelaufen sind und dann ist das ganze Essen auf dem Boden gelandet“, erklärt Andrea. Deshalb tragen alle Teammitglieder dieses Jahr zum ersten Mal jeweils ein Glöckchen am Bein. Das sei am Anfang etwas irritierend gewesen, aber es helfe ungemein. Bis jetzt sind sich die drei Bedienungen noch nicht in die Quere gekommen.

Dann geht es ans Bezahlen. Ich habe mir vorher schon meine Geldscheine in der Hosentasche bereitgelegt. Jetzt weiß ich nicht mehr, welcher der Fünf- und welcher der Zehn-Euro-Schein ist. Kein Problem für Andrea. Sie hat eine Schablone dabei, in die sie die Scheine legen und überprüfen kann. Als ich nachfrage, wie viel Uhr es inzwischen sei, ertönt auf einmal eine Computerstimme, die uns die Zeit vorliest. Andreas sprechende Uhr ist nicht größer als ein Schlüsselanhänger und kann überall festgemacht werden. Die Dunkelheit hat uns nicht nur die Vorstellung von Raum und Entfernung genommen, sondern auch von der Zeit. Denn wir sitzen schon über eine Stunde am Tisch – tatsächlich kommt es uns vor wie 30 Minuten.

Schließlich heißt es für mich wieder Aufatmen. Andrea begleitet uns wieder raus in das helle Foyer. Hier bietet die DPSG verschiedene Mitmachaktionen an. Das Ehepaar Gabi und Klaus Ipp versucht zum Beispiel, mit dem Blindenstock verschiedene Aufgaben im Haus zu lösen. „Der Besuch war absolut lohnenswert und hat mir gezeigt, dass eine Sehbehinderung was völlig Natürliches ist“, resümiert Klaus Ipp. Familie Reichert gibt zu, dass das Essen im Dunkeln zuerst sehr befremdlich war. Aber sie haben es sogar geschafft, ihr Essen untereinander auszutauschen, sodass jeder einmal von jedem probieren konnte.

Internet www.cafe-blind-date.de.

Rebecca Hornung (POW)


Bild: So sieht ein Mensch, der nur noch 5% seiner Sehkraft besitzt. (Foto: Giulia Rosso)

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