Mit den Händen singen

Mit den Händen singen

Claudia Walters Hände wirbeln in die Höhe bis über ihren Kopf. Ein strahlendes Lächeln überzieht ihr Gesicht. Vor ihr verfolgen elf Frauen und ein Mann aufmerksam jede Geste, jeden Gesichtsausdruck. Walter lässt die Hände wieder sinken. „Unser Leben wie Fest“, liest sie den Mitgliedern des Gebärdenchors der katholischen Gehörlosengemeinschaft der Diözese Würzburg vor.

Sie spricht deutlich, ihre Hände untermalen jedes Wort. Ein Fest mache froh, erklärt sie. „Froh muss man sehen am Gesicht.“ Jetzt gebärden alle die erste Zeile des Lieds. Bei „Fest“ lassen sie zeitgleich die Hände in die Luft fliegen, ein Dutzend Gesichter strahlen auf. Dann geht es weiter mit der nächsten Zeile. Bis zum Auftritt des Gebärdenchors beim Kiliani-Pontifikalamt für Kranke und Behinderte am Samstag, 11. Juli, um 10.30 Uhr im Kiliansdom müssen alle Lieder, die dann gesungen werden, geprobt sein.

Chor probt seit einem Monat

Seit einem Monat probt der Gebärdenchor für diesen Auftritt. Das Caritas-Seniorenwohnheim Marienheim im Würzburger Stadtteil Sanderau stellt dafür einen Raum zur Verfügung. Die Chormitglieder sind doppelt gefordert, denn sie müssen nicht nur den Text proben, sondern viele Lieder erst einmal umschreiben, um sie mit Gebärden begleiten zu können. „Es gibt keine Vorlagen. Wir übersetzen alles in Gebärdensprache“, erklärt Walter, seit Oktober 2012 Hörgeschädigtenseelsorgerin der Diözese Würzburg. Zwar habe der Chor im Laufe der Jahre „eine riesige Auswahl“ erarbeitet. Doch es kommen stetig neue Lieder hinzu. Und die lassen sich in der Regel nicht eins zu eins in Gebärden übersetzen, denn Hörgeschädigte verwenden eine andere Grammatik. So kennt die Deutsche Gebärdensprache (DGS), seit dem Jahr 2002 offiziell als Sprache in Deutschland anerkannt, zum Beispiel keine Artikel, auch die Satzstellung ist anders. Auch für das Hilfsverb „sein“ gibt es keine Gebärde. So wird schließlich aus dem Lied „Unser Leben sei ein Fest“ in der Übersetzung „Unser Leben wie Fest“.

Verschiedene Gebärdensprachen erschweren die Arbeit

Die Arbeit des Chors wird dadurch erschwert, dass es nicht nur eine Gebärdensprache gibt. Neben der Deutschen Gebärdensprache verwenden vor allem ältere Menschen auch die sogenannten Lautbegleitenden Gebärden, bei denen die Gebärden Wort für Wort begleiten, was gesprochen wird. „Wir verwenden hier eine Mischform“, sagt Walter. Immer wieder diskutieren die Teilnehmer darüber, welche Gebärde am verständlichsten ist. Etwa bei der Zeile „Jesu Geist in unseren Werken“: Sollen in der Übersetzung „Jesus Geist – ausbreiten“ bei „ausbreiten“ die Handflächen nach oben oder nach unten zeigen? Nach vielem Probieren entscheiden die Chormitglieder, die Handflächen nach unten zu nehmen. Walter notiert die Änderung in ihrem Skript, dann gehen alle das Lied noch einmal von Anfang an durch. „Gebärden sind gut? Kann man gut verstehen?“, fragt Walter. Erst als alle nicken, geht es weiter.

Chormitglieder sind teilweise von Geburt an gehörlos

In den Pausen wird lebhaft diskutiert - mit Gebärden, Stimme und Mimik. (Foto: Kerstin Schmeiser-Weiß / POW)
In den Pausen wird lebhaft diskutiert – mit Gebärden, Stimme und Mimik. (Foto: Kerstin Schmeiser-Weiß / POW)

Im Gebärdenchor sitzen Menschen, die von Geburt an gehörlos sind, neben jenen, die schwerhörig sind oder ihr Gehör erst im Laufe ihres Lebens verloren haben. „Ich habe mit 13 Jahren das Gehör verloren“, erzählt etwa Erna Kübert aus Karlburg. Wenn man mit ihr spricht, fällt kaum auf, dass sie nichts hört. Sie könne sich an alle Lieder erinnern und habe es immer bedauert, dass in den Gottesdiensten für Gehörlose früher keine Lieder gebärdet wurden. Auf ihre Initiative hin wurde deshalb im Jahr 2001 der Gebärdenchor gegründet. Wer ohne Gehör geboren wurde, kann nicht auf Erinnerungen zurückgreifen. Ob Gotteslob oder Gebet, ohne Gebärden verstehe sie den Inhalt nicht, erklärt Hedda Benesch aus Würzburg. Im Gebärdenchor sei das anders: „Wir sind selbst dabei und können aktiv etwas machen.“ Sie sei stolz darauf, zu zeigen, dass Gehörlose etwas können, sagt Margit Friedrich aus Wasserlosen. „Jetzt ist das Selbstbewusstsein gewachsen“, sagt sie in Gebärdensprache.

Integrativer Chor

„Seit einigen Wochen sind wir auch ein integrativer Chor“, sagt Walter. Claudia Abt (Würzburg) und Claudia Hermann (Rottendorf) lernen seit dem vergangenen Jahr die Gebärdensprache und haben sich nun dem Gebärdenchor angeschlossen. „Ich möchte ein Brückenbauer zwischen Gehörlosen und Hörenden sein“, sagt Abt. „Es ist eine Bereicherung für beide Seiten“, ist die Erfahrung von Ines Klingenmaier, Leiterin des Marienheims. „Es ist auch für Menschen mit Hörproblemen einfacher, wenn sie zum Beispiel beim Gottesdienst den Text auf einer Leinwand mitverfolgen können.“ Es ist kein Zufall, dass die Proben für den Würzburger Raum – weitere regelmäßige Probentermine sind in Aschaffenburg, Bad Neustadt und Schweinfurt – im Marienheim stattfinden. Die Einrichtung hat sich auf die Bedürfnisse hörgeschädigter Menschen eingestellt: Es gibt fünf Einbett- und ein Zweibettzimmer mit Lichtrufanlage, zwei der Mitarbeiterinnen im Marienheim seien selbst gehörlos, erklärt Klingenmaier.

Gebärdensprachdolmetscherinnen übersetzen bei Veranstaltungen. In Trauer- oder Sterbephasen werden die gehörlosen Bewohner von gehörlosen Hospizhelferinnen begleitet. Einmal im Monat wird ein Gottesdienst in Gebärdensprache gefeiert. So war es für Klingenmaier selbstverständlich, dem Gebärdenchor einen Raum zum Proben zur Verfügung zu stellen.

Wie gebärdet man Kilian?

Dort steht nun das Lied der Frankenapostel an: „Wir rufen an den teuren Mann“. Aber wie gebärdet man Kilian? Walter macht einen Vorschlag: Sie streckt den Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand nach oben – das „K“ – und fährt dann mit der ganzen Hand in Richtung Boden – die Geste für Mensch. Einen Moment stutzt der Chor, dann wird heftig diskutiert. Walter sieht fragend in die Runde. „Was habe ich falsch gemacht? Ich habe die Person – unterdrückt?“ Doris Ehrenreich aus Würzburg steht auf, nimmt Walters Hand und zieht sie sanft in eine Linie mit dem Unterarm, bis der Handrücken gerade ist. „Bitte auch mich kontrollieren“, schärft Walter den Chormitgliedern ein.

„Jetzt kommt mein Lieblingslied“, kündigt Walter an und liest vor: „Du rufst uns, Herr, an deinen Tisch und schenkst uns selber ein.“ Die linke Hand hält sie waagrecht vor sich – das Zeichen für Tisch. Dann beugt sie Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand und bewegt sie einmal im Halbkreis um den Tisch herum. Jedesmal, wenn die Hand kurz nach unten fährt, wird symbolisch ein Stuhl aufgestellt und eine weitere Person „sitzt“ mit am Tisch. Durch die Gebärdensprache habe sich ihre Vorstellung von diesem Lied geändert, sagt Walter. Aus Worten seien Bilder geworden. „Ich sehe mittlerweile, wie wir um den Tisch herum sitzen. Erst sitzen wir um den Tisch, und Jesus schenkt jedem einzeln ein.“ Die rechte Hand deutet reihum an, dass Wein in Gläser eingeschenkt wird. Noch einmal macht Walter die Gebärde für Stuhl. „Und dann sitzt Gott selbst mit am Tisch.“ Denn die Zeile „Du willst in jedem, der uns braucht, selbst gegenwärtig sein“ lautet übersetzt in die Gebärdensprache „Gott selbst (am) Tisch sitzen“.

Vielleicht gefällt dir auch