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Natur erleben ohne zu sehen

Würzburg – Die Natur mit ihrer Fülle an Farben und Formen zu erleben, ist ein Fest für unsere Sinne. Was aber, wenn die Augen nur eingeschränkt oder gar nicht funktionieren? Wie nehmen wir die Natur dann wahr? Wie kommen wir an die Informationen, die ein Sehender erhält?

Mit diesen und anderen Fragen im Gepäck haben Museologie- und Lehramtsstudierende das Gelände des Botanischen Gartens der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) unter die Lupe beziehungsweise die Fingerspitzen genommen.

Ein Semester lang haben sie zusammen mit ihren Dozentinnen Simone Doll-Gerstendörfer, Lehrbeauftragte für inklusive Kulturvermittlung an der Professur für Museologie, und Kerstin Bissinger, Koordinatorin des LehrLernGartens, Konzepte entwickelt, um Teile des Botanischen Gartens für blinde und sehbeeinträchtigte Besucher zu erschließen.

Zusammenarbeit mit Betroffenen

Am Anfang probierten die Studierenden mit Augenbinden aus, wie es sich anfühlt, nicht sehend den Botanischen Garten zu erkunden. „Trotzdem kann ein sehender Mensch sich nicht wirklich hineinversetzen wie es ist, nicht sehen zu können“, sagt Bissinger. „Inklusive Arbeit kann nur gelingen, wenn von Anfang an die Menschen mit ins Boot geholt werden, für die unsere Konzepte und Angebote gedacht sind“, sagt Doll-Gerstendörfer. „‚Nichts über uns ohne uns‛ muss die Devise lauten“, ergänzt sie.

Seit vielen Jahren arbeitet sie daher mit Anette Romeis und Volker Tesar, Bezirksgruppenleiter vom Blinden- und Sehbehindertenbund Würzburg und Unterfranken, zusammen. Beide – Anette Romeis ist sehr stark sehbeeinträchtigt und Volker Tesar blind – standen den Studierenden auch dieses Mal zur Seite und überprüften entsprechend die Entwürfe auf ihre Praktikabilität. Sie haben sich Audiodeskriptionen angehört, den Geländeplan sowie Modelle wie das einer Pfefferpflanze und einer Kakaoschote auf ihre Funktionalität getestet. Außerdem standen sie beratend zur Seite, wenn es darum ging, die Farben auf ihren Kontrastwert hin zu prüfen.

Volker Tesar, der als junger Erwachsener erblindete, kommunizierte ein Grundbedürfnis blinder und sehbeeinträchtigter Menschen: „Ich möchte auch individuell den Garten erleben können und nicht auf die Führung einer Begleitperson angewiesen sein.“ Somit wurde den Studierenden schnell klar, dass neben der Vermittlung auch die Orientierung eine wichtige Rolle im Projekt spielen sollte.

Gemäß dem Leitgedanken von Pro Retina „Hinkommen – Reinkommen – Klarkommen“ entstanden theoretische Ausarbeitungen zu einem Bodenleitsystem, das Modell eines taktilen Orientierungsplans sowie praktische Vermittlungsangebote, wie Tastmodelle, Hörstationen und Beschriftungen in Braille und Profilschrift. Pro Retina ist eine Selbsthilfevereinigung von Menschen mit Netzhautdegenerationen.

„Eigentlich ist ein Semester viel zu kurz, sich dieser spannenden Aufgabe zu widmen“, sagt Doll-Gerstendörfer. „Aber die Studierenden haben die zur Verfügung stehende Zeit gut genutzt und pfiffige sowie gut durchdachte Konzepte entwickelt“, sagt Bissinger. Einige dieser Vermittlungsangebote werden den Besuchern schon bald zur Verfügung stehen, andere werden im Sommersemester noch weiterentwickelt.

Inklusion beginnt im Kopf

Den Zugang zu allen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen für möglichst viele Menschen in möglichst vielen Situationen zu ermöglichen, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, ist eine politische und gesellschaftliche Notwendigkeit. „Inklusion beginnt im Kopf: Wenn wir bei allem Denken und Handeln von vorneherein alle Menschen mitdenken, egal welche Voraussetzungen sie mitbringen, werden Barrieren nicht nur abgebaut, sie entstehen erst gar nicht“, sagt Doll-Gerstendörfer. Es ginge um Respekt und darum, Menschen willkommen zu heißen.

Denn letztlich profitieren alle davon: Rollstuhlgerechte Zugänge wie Rampen und Aufzüge sind auch für die zunehmende Zahl älterer Menschen mit entsprechenden Einschränkungen komfortabel und vereinfachen Familien mit Kinderwagen das Navigieren. „Sind wir nicht alle dankbar, wenn Informationen verständlich für alle formuliert sind? Wenn wir in Museen und anderswo mit allen Sinnen lernen dürfen? Durch Anfassen, Riechen, Schmecken, über Spiele oder Multimedia-Angebote, so dass für jeden etwas dabei ist. Egal, ob man gut oder schlecht sieht und hört, oder wenn neben Treppen auch die deutsche Sprache eine Hürde darstellt“, sagt die Lehrbeauftragte der JMU.

Der Botanische Garten ergreift seit einiger Zeit Maßnahmen, das Gelände und die Häuser besser erreichbar zu machen. So wurde bei der Umgestaltung der Gewächshäuser der Zugang barrierefrei gestaltet. „Doch es ist nicht nur die Rampe am Eingang, die kulturelle Teilhabe ermöglicht, dazu gehört weitaus mehr“, erklärt Simone Doll-Gerstendörfer. Inklusion ist ein wichtiger Aspekt der Vermittlungsarbeit kultureller und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge. „Es ist uns wichtig den Studierenden der Sonderpädagogik und der Museologie entsprechende Praxiserfahrungen zu ermöglichen. Unsere Expertise liegt hierbei auf der fachwissenschaftlichen und kompetenzorientierten Ebene, entsprechend dankbar bin ich für die ergänzenden Kooperationen“ sagt Kerstin Bissinger.


Bild: Studierende erkunden „blind“ den Botanischen Garten. (Foto: Simone Doll-Gerstendörfer)

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